Wagen mit mathematischem Pendel, Bewegungsgleichung

Mechanik
Autor:in

Johannes Kaisinger

Veröffentlichungsdatum

9. August 2021

In diesem Blogeintrag wollen wir die Bewegungsgleichung von einem Wagen mit mathematischen Pendel herleiten. Dazu benutzen wir die Methode Lagrange II wobei die Geschwindigkeiten in körperfesten Koordinaten beschrieben werden.

Lagrange II

Lagrange II steht für Lagrange Gleichungen zweiter Art und ist eine der wichtigsten Methoden für die dynamische Modellbildung mechanischer Systeme.

In der deutschsprachigen Literatur wird die Lagrange II Methode oft mit

\[ \frac{d}{dt} \left( \frac{\partial T}{\partial \dot{\mathbf{q}}} \right)^T - \left( \frac{\partial T}{\partial \mathbf{q}} \right)^T + \left( \frac{\partial V}{\partial \mathbf{q}} \right)^T + \left( \frac{\partial R}{\partial \dot{\mathbf{q}}} \right)^T = \mathbf{Q} \]

wiedergegeben. Dabei werden die kinetische und potentielle Energie des Systems aufgestellt und nach den Minimalrichtungen abgeleitet. Zusätzlich können Reibterme mit Hilfe einer rayleighsche Dissipationsfunktion eingefügt.

Die kinetische Energie \(T\) für starre Mehrkörpersysteme

\[ T(\mathbf{q},\dot{\mathbf{q}}) = \sum_{i=1}^{N} \left\{ \frac{1}{2} \mathbf{v}_s^{T} m \mathbf{v}_s + \frac{1}{2} \boldsymbol{\omega}_s^{T}\mathbf{J}^{s}\boldsymbol{\omega}_s\right\}_{i} \]

erhält man mittels der Geschwindigkeiten der einzelnen Körper.

Das Gravitationspotential für ein Mehrkörpersystem lautet

\[ V_G(\mathbf{q}) = - \sum_i m_i \mathbf{g}_i^T \mathbf{r}_{si} + V_{Go}. \qquad \]

Das Federpotential für (lineare) Federn errechnet sich aus

\[ V(\mathbf{q}) =\sum_{i} \frac{1}{2} c_i s(\mathbf{q})_i^2 \]

Die Rayleighsche Dissipationsfunktion für lineare Reibterme ist durch

\[ R(\mathbf{q},\dot{\mathbf{q}}) = \sum_i \frac{1}{2} d_i \dot{s}_i^{2} \]

gegeben.

Die generalisierte Kraft \(Q\) ist mit

\[ Q(\mathbf{q}) = \sum_i \left[ \begin{matrix} \left( \frac{\partial \mathbf{v}_s}{\partial \dot{\mathbf{q}}} \right)^T & \left( \frac{\partial \boldsymbol{\omega}_s}{\partial \dot{\mathbf{q}}} \right)^T \end{matrix} \right]_i \left( \begin{matrix} \mathbf{f}^e \\ \mathbf{M}^e \end{matrix} \right)_i \qquad \]

gegeben.

Hinweis

Die Schwerpunktsgeschwindigkeiten \({}_R\mathbf{v}_s\), \({}_R\mathbf{w}_s\) können in beliebigen Koordinatensystemen \(R\) beschrieben werden. Wichtig ist, dass dann die zuhörige Größe \({}_R\mathbf{J}^{s}\) im selben Koordinatensystem \(R\) ausgedrückt wird. Selbiges gilt für die Schwerpunktvektoren \({}_R\mathbf{r}\) und den Schwerkraftsvektor \({}_R\mathbf{g}\). Im Allgemein empfehlen sich körperfeste Koordinatensysteme \(K\) weil in ihnen die Vektoren oft besonders kurz werden und somit der Aufwand gering gehalten werden kann. Einsteiger und Studierende empfinden die Beschreibung im Inertial-Koordinatensystem \(I\) als besonders leicht. Es sei aber darauf hingewiesen, dass hier oft längere Ausdrücke entstehen und somit der Aufwand steigt.

Skizze und Koordinatensystem

Wir werden 3 verschiedene Koordinatensystem verwenden. Das Inertial-Koordinatensystem gekennzeichnet mit \(\{I\}\). Ein körperfestes Koordinatensystem mit dem Ursprung im Schwerpunkt des Wagens, gekennzeichnet mit \(\{1\}\). Und ein weiters körperfestes Koordinatensystem welches sich mit dem Pendel mit dreht, gekennzeichnet mit \(\{2\}\).

Transformation

Für das wechseln der Beschreibung von Schwerpunktsvektoren und Geschwindigkeiten benötigen wir Drehmatrizen. Zwischen dem Inertial-Koordinatensystem \(\{I\}\) und dem Koordinatensystem \(\{1\}\) findet keine Verdrehung statt. Somit ergibt sich für die Drehmatrix

\[ A_{1I} = \begin{bmatrix} 1 & 0 & 0 \\ 0 & 1 & 0 \\ 0 & 0 & 1 \end{bmatrix} \]

die Einheitsmatrix. Die umgekehrte Drehrichtung $ 1 I $ ergibt sich immer durch die Transportierte \(A_{I1} = A_{1I}^T\).

Die Drehmatrix von \(1 \rightarrow 2\) lautet

\[ A_{21} = \begin{bmatrix} cos(q_2) & sin(q_2) & 0 \\ -sin(q_1) & cos(q_2) & 0 \\ 0 & 0 & 1 \end{bmatrix} \]

und es gilt wieder \(A_{12} = A_{21}^T\).

Um eine Verdrehung zwischen \(I \rightarrow 2\) zu beschreiben erfolgt durch

\[ A_{2I} = A_{21} A_{1I} \]

und für \(2 \rightarrow I\)

\[ A_{I2} = A_{I1} A_{12} = A_{1I}^T A_{21}^T = (A_{21} A_{1I})^T. \]

Schwerpunktvektoren

Die Schwerpunktsvektoren können mit

\[ {}_K\mathbf{r}_{P} = {}_K\mathbf{r}_{OP}+\mathbf{A}_{K{K-1}}{}_{K-1}\mathbf{r}_{O} \]

beschrieben.

Eine Rotation des Wagens findet nicht statt und somit gilt

\[ {}_1\boldsymbol{\phi}_{I1} = \begin{pmatrix} 0 \\ 0 \\ 0 \end{pmatrix}. \]

Die Translation des Wagens kann einfach mit

\[ {}_1\mathbf{r}_{s1} = \begin{pmatrix} q_1 \\ 0 \\ 0 \end{pmatrix} \]

beschrieben werden.

Die Rotation des Pendels ist mit

\[ {}_2\boldsymbol{\phi}_{I2} = \begin{pmatrix} 0 \\ 0 \\ q_2 \end{pmatrix} \]

beschrieben.

Die Translation des Pendelschwerpunkt errechnet sich zu

\[ \begin{align} {}_2\mathbf{r}_{s2} &= {}_2\mathbf{r}_{s1s2} + \mathbf{A}_{21} {}_1\mathbf{r}_{s1} \\ &= \begin{pmatrix} 0 \\ -s_2 \\ 0 \end{pmatrix} + \begin{bmatrix} cos(q_2) & sin(q_2) & 0 \\ -sin(q_1) & cos(q_2) & 0 \\ 0 & 0 & 1 \end{bmatrix} \begin{pmatrix} q_1 \\ 0 \\ 0 \end{pmatrix} \\ &= \begin{pmatrix} q_1 cos(q_2) \\ -q_1 sin(q_2)-s_2 \\ 0 \end{pmatrix}. \end{align} \]

Schwerpunktgeschwindigkeiten

Um einen Geschwindigkeitsvektor in einem beliebigen \(\{R\}\) Referenzsystem zu erhalten, muss die Beziehung

\[ {}_R\mathbf{v}_P = {}_R\dot{\mathbf{r}} + {}_R\widetilde{\boldsymbol{\omega}}_{IR}{}_R\mathbf{r} \]

angewendet werden.

Da keine Rotation des Wagens stattfindet gilt auch für Geschwindigkeit

\[ {}_1\boldsymbol{\omega}_{I1} = \begin{pmatrix} 0 \\ 0 \\ 0 \end{pmatrix}. \]

Somit ist die Translationsgeschwindigkeit einfach die Ableitung und lautet

\[ {}_1\mathbf{v}_{s1} = \begin{pmatrix} \dot{q}_1 \\ 0 \\ 0 \end{pmatrix}. \]

Für die Rotationsgeschwindigkeit des Pendels kann der Vektor

\[ {}_2\boldsymbol{\omega}_{I2} = \begin{pmatrix} 0 \\ 0 \\ \dot{q}_2 \end{pmatrix} \]

angegeben werden.

Der Spintensor ist mit

\[ {}_2\widetilde{\boldsymbol{\omega}}_{I2} = \begin{bmatrix} 0 & -\dot{q}_2 & 0 \\ \dot{q}_2 & 0 & 0 \\ 0 & 0 & 0 \end{bmatrix} \]

gegeben und die Translationsgeschwindigkeit des Pendelschwerpunkts lautet daher

\[ {}_2\mathbf{v}_{s2} = {}_2\dot{\mathbf{r}}_{s2} + {}_2\widetilde{\boldsymbol{\omega}}_{I2}{}_2\mathbf{r}_{s2} = \begin{pmatrix} \dot{q}_1 cos(q_2)+\dot{q}_2s_2 \\ -\dot{q}_1 sin(q_2) \\ 0 \end{pmatrix}. \]

Kinetische Energie

Der Wagen besitzt die Masse

\[ \mathbf{M}_1 = \begin{bmatrix} m_1 & 0 & 0 \\ 0 & m_1 & 0 \\ 0 & 0 & m_1 \end{bmatrix} \]

und das Massenträgheitsmoment

\[ \mathbf{J}_1 = \begin{bmatrix} A_1 & 0 & 0 \\ 0 & B_1 & 0 \\ 0 & 0 & C_1 \end{bmatrix}. \]

Das Pendel besitzt die Masse

\[ \mathbf{M}_2 = \begin{bmatrix} m_2 & 0 & 0 \\ 0 & m_2 & 0 \\ 0 & 0 & m_2 \end{bmatrix} \]

aber kein Massenträgheitsmoment

\[ \mathbf{J}_2 = \begin{bmatrix} 0 & 0 & 0 \\ 0 & 0 & 0 \\ 0 & 0 & 0 \end{bmatrix}. \]

Somit kann die kinetische Energie mit

\[ \begin{align} T(\mathbf{q},\dot{\mathbf{q}}) &= \frac{1}{2} {}_1\mathbf{v}_{s1}^T \mathbf{M}_1 {}_1\mathbf{v}_{s1} + \frac{1}{2} {}_2\mathbf{v}_{s2}^T \mathbf{M}_2 {}_2\mathbf{v}_{s2} \\ &= \frac{m_1 \dot{q}_1^2}{2} + \frac{m_2 \dot{q}_1^2}{2} + m_2\dot{q}_1 \dot{q}_2s_2cos(q_2)+\frac{m_2\dot{q}_2^2s_2^2}{2} \end{align} \]

angegeben werden.

Potentielle Energie

Nur die Masse des Pendels hat Einfluss auf die potentielle Energie

\[ V(\mathbf{q}) = - m_2{}_2\mathbf{g}^T {}_2\mathbf{r}_{s2} = - g m_2 s_2 cos(q_2). \]

Rayweilgh Funktion

Es werden sowohl für die translatorische als auch für die rotatorische Bewegung lineare Reibterme angesetzt. Die Rayweilgh-Funktion lautet

\[ R(\dot{\mathbf{q}}) = \frac{d_1 \dot{q}_1^2}{2} + \frac{d_2 \dot{q}_2^2}{2} \]

und ist eine quadratische Funktion.

Eingeprägte Kräfte und Momente

Auf das mechanische System soll nur eine translatorische Kraft

\[ {}_1\mathbf{F}_1 = \begin{pmatrix} F_1 \\ 0 \\ 0 \end{pmatrix} \]

auf den Schwerpunkt des Wagens einwirken. Eingeprägte Momente sind keine Vorhanden.

Generalisierte Kräfte

Die generalisierten Kräfte

\[ \mathbf{Q} = \left( \frac{\partial {}_1\mathbf{v}_{s1}}{\partial \dot{\mathbf{q}}} \right)^T {}_1\mathbf{F}_1 \]

ergeben sich durch die Projektion in den freien Richtungen.

Ableitungen

Für die Bewegungsgleichung

\[ \frac{d}{dt} \left( \frac{\partial T}{\partial \dot{\mathbf{q}}} \right)^T - \left( \frac{\partial T}{\partial \mathbf{q}} \right)^T + \left( \frac{\partial V}{\partial \mathbf{q}} \right)^T + \left( \frac{\partial R}{\partial \dot{\mathbf{q}}} \right)^T = \mathbf{Q} \]

werden verschiedene Ableitungen benötigt. Diese Ableitungen können mit

\[ \begin{align} \left( \frac{\partial T}{\dot{\mathbf{q}}} \right)^T &= \begin{pmatrix} m_1\dot{q}_1+m_2\dot{q}_1+m_2\dot{q}_2s_2cos(q_2) \\ m_2\dot{q}_1s_2cos(q_2)+m_2\dot{q}_2s_2^2 \end{pmatrix} \\ \frac{d}{dt} \left( \frac{\partial T}{\dot{\mathbf{q}}} \right)^T &= \begin{pmatrix} m_2 \ddot{q}_2 s_2 cos(q_2) - m_2 \dot{q}_2^2 s_2 sin(q)_2 + \ddot{q}_1(m_1+m_2) \\ m_2 s_2 (\ddot{q}_1 cos(q_2) + \ddot{q}s_2 - \dot{q}_1 \dot{q}_2 sin(q_2)) \end{pmatrix} \\ \left( \frac{\partial T}{\mathbf{q}} \right)^T &= \begin{pmatrix} 0 \\ - m_2\dot{q}_1 \dot{q}_2 s_2 sin(q_2) \end{pmatrix} \\ \left( \frac{\partial V}{\mathbf{q}} \right)^T &= \begin{pmatrix} 0 \\ g m_2 s_2 sin(q_2) \end{pmatrix} \\ \left( \frac{\partial R}{\dot{\mathbf{q}}} \right)^T &= \begin{pmatrix} d_1 \dot{q}_1 \\ d_2 \dot{q}_2 \end{pmatrix} \end{align} \]

angegeben werden.

Bewegungsgleichung

Eingesetzt in die obige Gleichung

\[ \begin{pmatrix} m_2 \ddot{q}_2 s_2 cos(q_2) - m_2 \dot{q}_2^2 s_2 sin(q)_2 + \ddot{q}_1(m_1+m_2) \\ m_2 s_2 (\ddot{q}_1 cos(q_2) + \ddot{q}s_2 - \dot{q}_1 \dot{q}_2 sin(q_2)) \end{pmatrix} + \begin{pmatrix} 0 \\ - m_2\dot{q}_1 \dot{q}_2 s_2 sin(q_2) \end{pmatrix} + \begin{pmatrix} 0 \\ g m_2 s_2 sin(q_2) \end{pmatrix} + \begin{pmatrix} d_1 \dot{q}_1 \\ d_2 \dot{q}_2 \end{pmatrix} = \begin{pmatrix} F_1 \\ 0 \end{pmatrix} \]

erhalten wir die Bewegungsgleichung. Jedoch ist es üblicher die Terme zu sortieren. Besonders das Herausheben der Massenmatrix \(\mathbf{M}(\mathbf{q})\) ist üblich. Die Bewegungsgleichung lautet dann

\[ \mathbf{M}(\mathbf{q})\ddot{\mathbf{q}}+\mathbf{g}(\mathbf{q},\dot{\mathbf{q}}) = \mathbf{Q} \]

oder detaillierter

\[ \begin{bmatrix} m_1+m_2 & m_2s_2cos(q_2) \\ m_2s_2cos(q_2) & m_2s_2^2 \end{bmatrix} \begin{pmatrix} \ddot{q}_1 \\ \ddot{q}_2 \end{pmatrix} + \begin{pmatrix} d_1 \dot{q}_1 - m_2 \dot{q}_2^2 s_2 sin(q_2) \\ d_2 \dot{q}_2 + g m_2 s_2 sin(q_2) \end{pmatrix} = \begin{pmatrix} F_1 \\ 0 \end{pmatrix}. \]

Fazit

Wir haben die Bewegungsgleichung des Wagens mit mathematischem Pendel hergeleitet. Für kleine Systeme kann dieses Vorgehen per Hand auf dem Papier durchgeführt werden. Für größere System sollten moderne Computeralgebrasysteme (CAS) genutzt werden. Im nächsten Post werden wir die Python-Bibliothek sympy nutzen um dieses Vorgehen zu wiederholen.