Dynamische Modellbildung

Mechanik
Autor:in

Johannes Kaisinger

Veröffentlichungsdatum

6. August 2021

Dynamische Modellbildung

Für viele Aufgaben in der Kybernetik ist es hilfreich dynamische Modelle zur Verfügung zu haben. Es kann grundsätzlich die theoretische Modellbildung von der experimentellen Modellbildung abgegrenzt werden. Die theoretische Modellbildung basiert auf physikalischen Einsichten aus denen die dynamischen Gleichungen abgeleitet werden können. Dagegen basiert die experimentelle Modellbildung, wie der Name schon sagt, auf Experimenten aus denen Messdaten gewonnen werden. Mit Hilfe von Methoden aus den Feldern, wie der Statistik, der Systemidentifikation und dem maschinellen Lernen können dynamische Modelle aus diesen Daten erstellt werden.

Warum Dynamische Modelle?

Dynamische Modelle sind hilfreich um komplexe Prozesse zu simulieren und zu analysieren. Insbesondere sind diese auch für eine Reglersynthese sehr hilfreich. Man mag nun einwerfen, dass durch den Erfolg des bestärkenden Lernens (engl. Reinforcement Learning), Modelle nicht mehr notwendig seien. Einer genaueren Untersuchung hält dieser Einwurf aber kaum stand, da viele Erfolge sehr wohl Modelle in Simulationsumgebungen benutzen und nur wenige industrietaugliche Applikationen völlig ohne Simulatoren auskommen. Eine völlig modellfreie Reglersynthese ist derzeit fast nur unter Laborbedingungen zu erreichen (“Ausnahmen bestätigen die Regel”).

Richtig ist aber, dass Modelle nicht mehr zwingend für eine Reglersynthese notwendig sind, sehr wohl aber für die Simulatoren auf denen diese Synthese beruhen. Insbesondere neue Modellierungstechniken, wie Modelica/SysML/UML welche oft auf sogenannte Deskriptorsysteme (Differential-algebraische Gleichungen) führen, könnten somit an Bedeutung gewinnen. Für Deskriptorsysteme ist die Regelungstheorie deutlich weniger weit entwickelt und wird auch im Rahmen eines Masterstudiengangs kaum gelehrt.

Für viele Methoden der Kontrolltheorie sind deshalb Modelle eine Voraussetzung und der Studierende der Kybernetik sollte in jedem Fall mit einigen Methoden der Modellierung vertraut seien.

Wir wollen mit der theoretischen Modellbildung von mechanischen Systemen starten, die sie sich besonders für Simulationen und Animationen eignen, und zentral für viele technische Applikationen (CNC Maschinen, 3D Drucker, Roboter, etc ) sind. In späteren Blogeinträgen werden wir auch die experimentelle Modellbildung besprechen.

BREMERsches Methodendreieck der Dynamik

Für die dynamische Modellbildung von mechanischen Mehrkörpersystemen stehen eine Vielzahl an Methoden zur Verfügung. Im Folgenden wird das BREMERsche Methodendreieck der Dynamik dargestellt, benannt nach Hartmut Bremer.

Methode Formeln
Helmholtz 1847 \(T+V = H\)
Appell 1899 \(\left(\frac{G}{\ddot{\mathbf{s}}}\right)^T = \mathbf{Q}\)
Lagrange 1788 \(T+V = H\)
Hamilton 1834 \(\dot{\mathbf{p}}^T = -\left(\frac{H}{\mathbf{q}}\right); \dot{\mathbf{p}}^T = -\left(\frac{H}{\mathbf{p}}\right)\)
Lagrange 1780 \(\frac{d}{dt} \frac{\partial T}{\partial \dot{\mathbf{q}}}-\frac{\partial T}{\partial \dot{\mathbf{q}}}-\mathbf{Q}^T = 0\)
Nielsen 1935 \(\frac{\partial \dot{T}}{\partial \dot{\mathbf{q}}} - 2 \frac{\partial T}{\partial \mathbf{q}} - \mathbf{Q}^T = 0\)
Tzenoff 1953 \(\frac{1}{2} \frac{\partial \ddot{T}}{\partial \ddot{\mathbf{q}} } - \frac{3}{2} \frac{\partial T}{\partial \mathbf{q}} - \mathbf{Q}^T = 0\)
Mangeron/Deleanu 1962 $ - - ^T = 0 $
Maggi 1903 \(\left[ \frac{d}{dt} \frac{\partial T}{\partial \dot{\mathbf{q}}} - \frac{\partial T}{\partial \mathbf{q}} -\mathbf{Q}^T \right] \left( \frac{\partial \dot{\mathbf{q}}}{\partial \dot{\mathbf{s}} } \right) = 0\)
Hamel 1904 \(\left[ \frac{d}{dt} \frac{\partial T}{\partial \dot{\mathbf{q}}} - \frac{\partial T}{\partial \mathbf{q}} -\mathbf{Q}^T \right] \delta \mathbf{s} + \frac{\partial T}{\partial \dot{\mathbf{s}}} \left( \frac{d \delta \mathbf{q}-\delta d \mathbf{s}}{dt} \right) = 0\)
Zentralgleichung \(\frac{d}{dt} \left[ \left( \frac{\partial T}{\partial \dot{\mathbf{s}}} \right) \delta \mathbf{s} \right] - \delta T - \delta W = 0\)
Projektionsgleichung \(\sum_{i=1}^{N} \left\{ \left[ \left( \frac{\partial \,_{R} \mathbf{v}_s}{\partial \dot{\mathbf{s}}} \right)^{T} \left( \frac{\partial \,_{R} \mathbf{\omega}_s}{\partial \dot{\mathbf{s}}} \right)^{T} \right]_{i} \begin{bmatrix} ({}_{R}\dot{\mathbf{p}}+{}_{R}\tilde{\omega}_{IR}{}_{R}{\mathbf{p}-{}_{R}\mathbf{f}^{e}}) \\ ({}_{R}\dot{\mathbf{L}} {}_{R}\tilde{\omega}_{IR}{}_{R}{\mathbf{L}-{}_{R}\mathbf{M}^{e}}) \end{bmatrix}_{(i)} \right\}\)

Dieses Dreieck zeigt wichtige Methoden der Dynamik in einer übersichtlichen Weise. Im angelsächsischen Raum hat auch noch Kane’s Method eine gewisse Bedeutung welche auch in sympy implementiert ist (Kane’s Method in Sympy). Im deutschen Sprachraum hat sich aber diese Methode nicht durchgesetzt.

Mehrkörpersysteme

Für Mehrkörpersysteme haben sich vor allem die Methoden Impuls und Drallsatz

\[ \begin{matrix} {_R}\dot{\mathbf{p}}+{_R}\tilde{\boldsymbol{\omega}}_{IR} {_R}\mathbf{p} = {_R}\mathbf{f}^{e}+{_R}\mathbf{f}^{z} \\ {_R}\dot{\mathbf{L}}+{_R}\tilde{\boldsymbol{\omega}}_{IR} {_R}\mathbf{L} = {_R}\mathbf{M}^{e}+{_R}\mathbf{M}^{z} \end{matrix} \]

die Lagrange Gleichung zweiter Art

\[ \frac{d}{dt} \left( \frac{\partial T}{\dot{\mathbf{q}}} \right)^T - \left( \frac{\partial T}{\mathbf{q}} \right)^T + \left( \frac{\partial V}{\mathbf{q}} \right)^T + \left( \frac{\partial R}{\dot{\mathbf{q}}} \right)^T = \mathbf{Q} \]

und die Projektionsgleichung

\[ \sum_{i=1}^{N} \left\{ \left[ \left( \frac{\partial \,_{R} \mathbf{v}_s}{\partial \dot{\mathbf{s}}} \right)^{T} \left( \frac{\partial \,_{R} \mathbf{\omega}_s}{\partial \dot{\mathbf{s}}} \right)^{T} \right]_{i} \begin{bmatrix} ({}_{R}\dot{\mathbf{p}}+{}_{R}\tilde{\omega}_{IR}{}_{R}{\mathbf{p}-{}_{R}\mathbf{f}^{e}}) \\ ({}_{R}\dot{\mathbf{L}}+{}_{R}\tilde{\omega}_{IR}{}_{R}{\mathbf{L}-{}_{R}\mathbf{M}^{e}}) \end{bmatrix}_{(i)} \right\} \]

als hilfreich erwiesen.

Die hamiltonsche Bewegungsgleichung

\[ \begin{matrix} \dot{\mathbf{q}} &= + \left(\frac{\partial H}{\partial \mathbf{p}}\right)^T \\ \dot{\mathbf{p}} &= - \left(\frac{\partial H}{\partial \mathbf{q}}\right)^T \end{matrix} \]

hat zwar für die Mehrkörpermechanik eine geringere Bedeutung, die Hamilton Funktion

\[ H(\mathbf{q},\mathbf{p}) \]

selbst besitzt durch die vielen Verbindungen zu anderen Feldern wie

  • Hamilton-Funktion (Kontrolltheorie)
  • Port-Hamilton-Systeme (Kontrolltheorie)
  • Rückwärtspropagation, Fehlerrückführung (Neuronal Netze)
  • Hamiltonsche Neuronale Netze (Neuronal Netze)
  • Statistische Mechanik (Physik)
  • Quantenmechanik (Physik)
  • Relativistische Mechanik (Physik)

dennoch eine enorme Wichtigkeit und sollte deshalb studiert werden.

Fazit

Viele dieser Methoden werden wir in diesem Blog noch kennen lernen. Sie sind enorm hilfreich um schnell mechanische Systeme zu erstellen, die dann für die Simulation und für die Datengenerierung zur Verfügung stehen. Diese Simulationen können für die Systemidentifikation (engl. Machine Learning), für die Reglersynthese für das bestärkende Lernen (engl. Reinforcement Learning) genutzt werden, ohne auf weitere Programme angewiesen zu sein.